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Gedichte interpretieren

Vor der Interpretation

Zunächst begegnet uns ein Text immer als etwas, das unserem Verständnis entgegensteht. Etwas, das wir erst durch Lektüre erschließen müssen. – Nun sind wir im allgemeinen daran gewöhnt, dass wir etwas lesen und sich uns die darin enthaltenen Informationen unmittelbar erschließen. Das gilt aber nicht zwangsläufig für literarische Texte, da unter dem einfachen Wortsinn ein tieferer Sinn enthalten sein kann. Das bedeutet, wir müssen uns auf Spurensuche begeben und wie bei einer Ausgrabung die untere Schicht gegebenenfalls freilegen. Dies gilt umso mehr für lyrische Text: Der Sinn lyrischer Wortkunst muss immer erst erschlossen werden, da sich Gedichte auch im bloßen Klang oder in Bildlichkeiten erschöpfen können.

Vor der Lektüre eines Gedichts müssen wir uns klar werden, dass sich der Text unserem einfachen linearen Textverständnis, an das wir uns so gewöhnt haben, widersetzen wird. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die äußere Form erschwert die Lektüre. Dazu zählen Metrum, Tropen und Figuren, aber auch Wortsinn und Grammatik, die in einem lyrischen Kunstwerk wesentlich vielfältiger sein können.

Daher möchte ich hier folgende These starkmachen: Lyriklektüre ist zunächst einmal vor allem eines, nämlich Übersetzungsarbeit. Die lyrische Form muss durch eine prosaische Form ersetzt werden. Nun haben Gedichte gegenüber prosaischen Gattungen in der Regel einen entscheidenden Vorteil: Sie sind wesentlich kürzer. Anders als einen Roman oder auch nur eine Erzählung, sind Gedichte schnell gelesen. Dies verschafft uns die Möglichkeit sie mehrmals zu lesen und damit können wir aus der linearen eine zyklischen Lektüre machen.

Ich bin der Meinung, dass ein Gedicht vor der eigentlichen Interpretation mindestens dreimal gelesen werden sollte: Die erste Lektüre verschafft uns einen Eindruck. Es sollte langsam, stetig, kohärent und idealerweise laut gelesen werden, um auch die klangliche Dimension zu erfahren.
Dieser erste Durchgang verzichtet weitgehend auf inhaltliche Analysen und Spekulationen. Dabei ziehen Bildwelten an den Interpret*innen vorbei wie Landschaften auf einer Zugfahrt. Manchmal als bloße Farbstriche.

Bei der zweiten Lektüre liegt das Augenmerk auf der Grammatik und dem Wortsinn: Komplizierte Satzstrukturen wie sie etwa durch Inversionen oder ein Metrum entstehen sollten aufgeschlüsselt werden. Unklare Wörter sollten nachgeschlagen oder aus dem Kontext erschlossen werden.
Dabei gilt es unbedingt, dass der Text durch Marginalien und Markierungen für den weiteren Gebrauch aufbereitet wird. Ich würde dabei auf Farbmarkierungen erstmal verzichten und stattdessen einen Bleistift verwenden. Einfach, weil Bleistift sich radieren lässt.

Die dritte Lektüre vereint die vorangegangenen Lesedurchgänge in sich. Dabei werden auch motivische und strukturelle Anlagen deutlich und wiederum graphisch im Text hervorgehoben. Gerne auch durch Querverweise etc. Damit können Zusammenhänge in der bloßen Struktur aufgewiesen werden, indem diese zusätzlichen Informationen das Schriftbild durch beinahe fast bildhafte Züge ergänzen.

Nach dieser Lektüre haben wir den Wortlaut des Gedichts schon sehr gut im Ohr. Vor der weiteren Lektüre müssen wir uns nun weiter mit dem Gedicht vertraut machen und das bedeutet an dieser Stelle: Formanalyse.

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