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Über das ›Ich‹ in lyrischen Texten

Entstanden: 24.01.2023

Einleitung

Bei der Interpretation lyrischer Texte ist es in den meisten Fällen hilfreich, wenn man sich fragt, wer die Verse spricht. Oft, aber nicht immer, tritt diese Sprechinstanz auch explizit als ›Ich‹ in Erscheinung. Aber auch in den Fällen, wo das ›Ich‹ nur implizit mitschwingt, darf dahinter ein fühlendes, denkendes Ich vermutet werden, das einen konkreten Weltbezug in lyrischen Text übersetzt. In einem Gedicht verkörpert das Ich also das Eigene, das Vertraute (anders als etwa das ›Du‹ oder eine dritte Person, die beide einen anderen Weltbezug markieren, mitunter auch eine fremde, unverstandene Perspektive).

Gemeinhin (so wird zumindest in den Schulen und Universitäten gelehrt) bezeichnet man diese ominöse Sprechinstanz als ›lyrisches Ich‹. Davon unabhängig zu betrachten sei das empirische Ich, also eine historische Person, die in bestimmten Zeitbezügen lebt bzw. gelebt hat, mit einer eigenen Biographie, die isst und trinkt und verdaut. Den Begriff ›Lyrisches Ich‹ hat Margarete Susmann vor über einhundert Jahren geprägt und man darf zu Recht annehmen, dass er etwas in die Jahre gekommen ist.

Biographische Lesarten

Selbstredend kann und darf das Werk eines Künstlers bzw. einer Künstlerin nicht allein über die Biographie erschlossen werden. Dazu braucht man sich nur das Beispiel ›Franz Kafka‹ anzuschauen: Die Beiträge, die Kafka psychologisch zu deuten versuchen, als jemand, der einen gewaltigen Vaterkomplex verarbeitet, sind nicht nur völlig überflüssig und öde, sondern erscheinen auch völlig absurd, wenn man berücksichtigt, dass Kafka Freud kannte und um diese psychologischen Muster wusste.

(Tatsächlich sind Lesarten generell abzulehnen, die aus einer bestimmten Disziplin entstammen und sich im Reflex literarischer Texte lediglich selbst bespiegeln wollen. Das betrifft vor allem psychologische Lesarten: Hier werden Texte zu Patienten, ohne nennenswerte psychologische Vorerkrankung.)

Das lyrische Ich

Zurück zu Margarete Susmann. Sie hat den wirkmächtigen Begriff ›Lyrisches Ich‹ 1910 geprägt (in Das Wesen der modernen deutschen Lyrik) und damit Stellung gegen das empirische Ich bezogen. Die vielzitierte Fragestellung ›Was will uns der Dichter damit sagen‹ ist seither obsolet: Nicht Dichter*innen sprechen, sondern das lyrische Ich.

Ein radikaler Schritt, der gleichwohl nötig war. Nicht zuletzt im Zuge demokratischer Umbrüche und Diskontinuitäten wurden Dichter*innen von ihrem hohen gesellschaftlichen Sockel gestoßen. Dazu muss man wissen, dass Dichter*innen, sofern sie Erfolg hatten, in weiten Teilen der Bevölkerung durchaus hohes Ansehen genossen und mit den gesellschaftlichen Eliten verkehrten. Adelige und wohlhabende Bürger betätigten sich oft als Mäzene der Musensöhne und -töchter, und sonnten sich in deren Ansehen.

Gleichermaßen emanzipieren sich mit der Etablierung dieses Begriffs die Rezipient*innen, deren Interpretation plötzlich gleich viel wiegt, wie die der Dichter*innen. Letzgenannte verlieren durch diese Differenzierung letztlich die Deutungshoheit über ihren Text. Stattdessen werden sie selbst zu Rezipient*innen, nachdem die Textproduktion erst einmal abgeschlossen ist.

Zu guter Letzt räumt diese Begriffsbildung mit gängigen Klischees auf, wie sie in den Jahrhunderten zuvor gepflegt wurden. Vor allem in Epochen, die sich betont subjektiv geben wie etwa Empfindsamkeit, Sturm und Drang oder Romantik. Wo ein Geniekult das öffentliche Bild der Dichter*innen prägt und Textproduktionen zu einem quasi-göttlichen Akt verklärt werden (eine Fassade, die den Umstand verdeckt, dass hinter jeder gelungenen Textproduktion viele vergebliche Versuche stehen. Ein großes Scheitern. Zweifel an den eigenen Fähigkeiten und jede Menge Arbeit.)

Auch dagegen leistet der Susmanns Begriff Vorschub, indem er zwischen einer historisch-empirischen Person und einem textimmanenten Ich unterscheidet, auch wenn Susmann dies vielleicht nicht beabsichtigt hat. Daher bleibt festzuhalten, dass Kritik am Ich-Begriff im damaligen Kontext durchaus berechtigt gewesen ist.

Kritik

Nun im Umkehrschluss zu behaupten, eine lyrische Sprechinstanz sei den Zusammenhängen einer Vita im biographischen Sinne gänzlich enthoben, greift aber ebenfalls zu kurz. In diesem Zusammenhang scheint es erhellend, dass Susmann ihren Begriff ›lyrisches Ich‹ an Rilkes Gedichten profiliert hat – einem Künstler, der sich stark als weltfremder Künstler stilisiert hat.

Wie ließe sich das lyrische Werk Bertolt Brechts ohne biographische Bezüge verstehen? Ob nun die Svendborger Gedichte (1939), die Brecht auf der Flucht vor den Nazis im dänischen Exil geschrieben hat, oder die Buckower Elegien (1953), in denen er, anders als in seinen dramatischen Texten, offen Zweifel und Kritik am real existierenden Sozialismus formuliert: Ohne ein biographisches Ich, das hier immer irgendwie mitspielt, würde viel Kontext in diesen Texten unklar bleiben.

Zuletzt ist diese Debatte ein wenig eingeschlafen, nicht zuletzt, weil Lyrik, gesamtgesellschaftlich betrachtet, irrelevant geworden ist. Aber die Fragestellung bleibt aktuell, weil sie als Standortbestimmung natürlich auch in einem literaturtheoretischen Gesamtgefüge zu betrachten ist. Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle dafür aussprechen, mehr Offenheit zu wagen. Auch wenn es aus einer wissenschaftlichen Perspektive betrachtet unbefriedigend erscheinen mag, so wird diese Offenheit doch ihrem Gegenstand, der Lyrik, am ehesten gerecht.

Fazit

Was will uns der Dichter damit sagen? – Wer so fragt, hat nicht nur einen recht einseitigen Literaturbegriff, sondern unterliegt einer kategorialen Täuschung: Dichter*innen (als historische Persönlichkeit) wollen uns (als aktuellem Leser) erstmal gar nichts sagen. Auch der Begriff ›lyrisches Ich‹ ist in diesem Zusammenhang leider einseitig belastet und sollte durch ›Ich‹ oder (wenn man ein Faible für Begrifflichkeiten hat:) durch ›lyrische Sprechinstanz‹ ersetzt werden.

In einem lyrischen Text markiert das ›Ich‹ lediglich einen bestimmten Standpunkt, von dem aus sich der lyrische Text erschließt. Es ist ein grammatikalisches Vexierbild, das zwischen Weltbezug und subjektivem Reflex changiert. Die Dichter*innen als historische Persönlichkeit haben den ganzen Text verfasst, nicht nur die Personal-Pronomina. Beides gehört zusammen und bedingt sich gegenseitig. Zwischen Weltbezug und subjektivem Reflex (›Ich‹) lässt sich nicht trennscharf unterscheiden, da uns in einem Gedicht lediglich der Weltbezug, nicht aber Welt, gegeben ist. Dieser Weltbezug bleibt subjektiv, auch wenn er im Text objektiv erscheint.

Die Frage nach der Sprechinstanz in lyrischen Texten wird damit zur Frage nach dem ontologischen Status des Textes selbst. Und dieser vereint biographisch und nicht-biographisch geprägte Erfahrungen in sich. Aus diesem Zusammenspiel zwischen scheinbar biographisch-objektivem Weltbezug und rein subjektivem Reflex entsteht eine lyrische Welt und damit letztlich auch das Ich.

Daher muss der Ich-Begriff in lyrischen Texten offener gefasst werden: In einem lyrischen Text positioniert sich das jeweilige Ich auf einer Skala, die von völliger biographischer Abwesenheit bis hin zu einer biographischen Determination reicht. Als Kriterium gilt hier das Textverständnis eines lyrischen Textes: Sofern biographische Hintergrundinformationen das Textverständnis erhellen, sind sie ein grundlegender Bestandteil der Interpretation und gehören unbedingt dazu. Informationen, die darüber hinaus gehen, sind bloße Liebhaberei und reichen in den Bereich des bloß Anekdotischen.

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